Spoiler: Aus Sicht der Bußgeldstelle Pforzheim gehört der Vorfall im Titelbild zur „Kategorie 5“ – „Geringfügige Unterschreitung oder gar keine Unterschreitung, Grenzfälle“ – und wird deshalb nicht geahndet.

Nach ziemlich genau drei Monaten bekam ich gestern die Antwort der Bußgeldstelle auf meine Anfrage von Mitte April 2020.

Am selben Tag bekam ich auch ein paar Rückmeldungen zu meinen angezeigten Vorfällen, die ich auch hier erwähnen werde, da sie das Gesamtbild vervollständigen. Auch in der Antwort werden verschiedene Kennzeichen und Daten der Vorfälle als Beispiele genannt, die ich hier zeigen werde.

Den Anfang dieser Geschichte gibt es hier. Dort geht es vor allem um die Sichtweise der Bußgeldstelle Pforzheim zum Rechtsfahrgebot und zu Überholabständen; damals noch vor der StVO-Novelle.

Die jetzige Antwort hat bereits die neuen Regelungen zum Mindestabstand beim Überholen von Fahrradfahrenden als Hintergrund.

Disclaimer :)

Ein paar Dinge vorweg:

Ich finde es gut, dass sich die Bußgeldstelle Pforzheim auf die Situation einlässt und auch versucht, einen guten Umgang damit zu finden. Sonst hätte man mir nicht so eine detaillierte Beschreibung zukommen lassen, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen Vorfälle bearbeitet werden. Das hilft auch mir bei der Beurteilung, welche Vorfälle ich einsende und bei welchen es nichts bringt. Danke dafür.

Es ist nicht mein Ziel, die Bußgeldstelle mit unnötiger Arbeit zu überschütten oder sie zu überlasten. Leider passieren auf meinen täglichen Fahrradfahrten so viele Vorfälle, dass selbst dann, wenn ich nur einen ganz kleinen Anteil davon zur Anzeige bringe, es bei der Bußgeldstelle den Eindruck erwecken könnte, dass genau das mein Ziel sei.

Ich empfinde jedoch einige der Einordnungen durch die Bußgeldstelle bei manchen Vorfällen als sehr „Auto-lastig“ und es fehlt mir dabei oft die Fahrrad-Perspektive. Manche Kriterien für die Einordnung sind aus meiner Fahrradfahrer-Perspektive auch sehr unrealistisch oder sogar gefährlich.

Meine ursprüngliche Anfrage

[…]

bezüglich des Abstands eines Radfahrenden zum Fahrbahnrand habe ich einen anderen Kenntnisstand.

Jagusch/Hentschel, § 2 StVO Rn. 35: […]

Und Rn. 41: […]

Die Gesamtbreite meines Fahrrads ist breiter als die Tasche vorne am Lenker. Ich habe Ihnen zur Veranschaulichung ein Foto beigefügt.

Von der Mitte nach links inklusive Rückspiegel sind es ca. 46 cm und von der Mitte nach rechts sind es etwa 35 cm.

Zudem habe ich vor ein paar Tagen ausgemessen, wieviel Abstand ich meistens zur Fahrbahnbegrenzungslinie bzw. zum Bordstein halte, gemessen ab der rechten äußersten Kante des Lenkers auf der rechten Seite.

* Landstraße: 25 – 40 cm
* Innerorts: 25 – 40 cm
* Landstraße, Gegenverkehr, weil sonst trotzdem manche Menschen überholen: 80 – 100 cm
* Wenn parkende Autos rechts: ca. 1,5 m zur linken Außenkante des Fahrzeugs

Demnach [Anmerkung: Nach geltender Rechsauslegung nach Jaugusch/Hentschel.] müsste ich innerorts und auf Landstraßen ohne Gegenverkehr noch mehr Abstand nach rechts halten, als es aktuell der Fall ist.

Dass Sie schreiben „Wo auf den Bildern ersichtlich ist, dass Sie selbst während des Überholvorganges mit großem Abstand zur rechten Fahrbahnbegrenzung oder Bordstein (bei parkenden Fahrzeugen entsprechend mehr) fahren, werden wir in beiderseitigem Interesse von der Einleitung eines Verfahrens absehen.“ kann ich deshalb nicht nachvollziehen und bitte Sie, für die bereits angezeigten Vergehen und auch für zukünftige Anzeigen ein Verfahren einzuleiten.

Mit freundlichen Grüßen

[…]

Das erste Schreiben an die Bußgeldstelle vom 14.04.2020 zur Sichtweise der Bußgeldstelle, ich müsse möglichst weit rechts fahren.

Das Foto von meinem Fahrradlenker, das ich der Bußgeldstelle mitgeschickt hatte.

Am 28.04.2020 schrieb ich eine Erinnerungs-E-Mail an die Bußgeldstelle und erhielt nur zwei Stunden später eine Antwort. Man habe aktuell viel mit Corona zu tun und müsse auch erst einmal die neue StVO prüfen, bevor man mir Auskünfte erteile.

Die „erinnernde“ Anfrage

Weitere zwei Wochen später schrieb ich am 12.05.2020 erneut eine Erinnerung und konkretisierte die Fragen. Dieses Mal war auch die Leitung des Amts für öffentliche Ordnung im CC:

Sehr geehrte Damen und Herren,

[…]

1. Hat sich Ihr Standpunkt bezüglich des Rechtsfahrgebots aufgrund der durch mich genannten Rechtseinschätzungen (bis zu 1,0 Meter Abstand zum rechten Fahrbahnrand seien in Ordnung) geändert? Wenn ja, inwiefern? Bezüglich des Rechtsfahrgebots wurde in der neuen StVO nichts geändert. Falls sich Ihre Ansicht zum Rechtsfahrgebot geändert hat, werden Sie in den bereits angezeigten Fällen, wo dies bisher strittig war, noch Verfahren einleiten?

2. Wie ist der Stand bezüglich der neuen StVO im Hinblick auf den Mindestabstand beim Überholen von Radfahrenden? Welche (zusätzlichen) Angaben benötigen Sie in Zukunft, um einschätzen zu können, ob 1,5 bzw. 2 Meter Mindestabstand eingehalten wurden? Fahrbahnbreite? Selbst bei einer maximalen Breite eines Fahrstreifens ausserorts (Landstraße) von 3,75 Metern, und meiner eigenen Position auf dem Fahrstreifen, muss der Fahrzeugführende das überholende Fahrzeug fast komplett auf den linken Fahrstreifen manövrieren.

[…]

Meine Erinnerungs-Anfrage an die Bußgeldstelle Pforzheim vom 12.05.2020

Die Antwort der Bußgeldstelle

Die Antwort kam am 15.07.2020 per E-Mail. Als Anhang war eine PDF-Datei beigefügt mit dem eigentlichen Brief – der auch noch per Post kommen wird – und den im Schreiben erwähnten Kommentaren zu Rechtsansichten. Es gibt das komplette Schreiben auch als PDF-Datei bei FragdenStaat, siehe hier.

Teil 1 – Abstand und Rechtsfahrgebot

[…]

Die Kommentierung Hentschel zum Straßenverkehrsrecht geht aufgrund der Rechtsprechung sogar nur von 0,75 m als richtigem Abstand aus, wenn man sich an das Rechtsfahrgebot als Radfahrer hält. Eine Kopie von der Kommentierung haben wir beigefügt.

[…]

Erster Teil der Antwort von der Bußgeldstelle Pforzheim vom 15. Juli 2020.

Man geht also von einem Abstand bis zu 0,75 m zum Fahrbahnrand aus. Trotzdem schreibt man mir in Rückmeldungen etwas mehr als eine Stunde später in diesem Fall:

[…]

der Vorwurf ist berechtigt, eine Verwarnung geht raus. Jedoch trotzdem – orientieren Sie sich bei dichtem Verkehr weiter rechts.

[…]

Hinweis der Bußgeldstelle zu meinem Rechtsfahrgebot in einem Fall, in dem ich knapp überholt wurde.

Im vierten Bild sieht man, wo ungefähr meine Mitte zu diesem Zeitpunkt ist. Nahe an dem Straßenablauf rechts. Da der Abstand nach rechts nicht von meiner Mitte aus gilt sondern von der meiner rechten Kante, ist das ein Abstand, der aus meiner Sicht völlig in Ordnung ist, wenn man davon ausgeht, dass so ein Straßenablauf 50 cm breit ist.

Würde ich, wie die Bußgeldstelle es möchte, noch weiter rechts fahren, dann würde fast jeder Fahrzeugführende dort mit sehr wenig Abstand überholen.

Hier wünsche ich mir in Zukunft mehr Verständnis für die Perspektive aus Sicht eines Fahrradfahrenden. Eine weitere Rückmeldung zehn Minuten später sagt dann auch etwas über den Abstand beim Überholen aus. Laut StVO müssen außerorts (wie in diesem Fall) mindestens zwei Meter Abstand zu Radfahrenden eingehalten werden.

Doch in diesem Fall schreibt die Bußgeldstelle:

Sie sind in keinster Weise beeinträchtigt, diesen Verstoß verfolgen wir wegen Geringfügigkeit nicht. Außerdem verstehe ich persönlich nicht, warum Sie auf diesem Teilstück nicht den Weg neben der Fahrbahn benutzen. Ein anderer Radfahrer kann das offensichtlich auch. 

Hinweis der Bußgeldstelle zu Mindestabstand beim Überholen.

Gilt denn nun der Mindestabstand von zwei Metern ausserorts oder ist es immer noch Ermessensspielraum der Bußgeldbehörde, ob man eine klare Unterschreitung verfolgt oder wegen „Geringfügigkeit“ nicht verfolgt?

Ich fahre nicht auf diesem Teilstück neben der Fahrbahn, da es kein benutzungspflichtiger Radweg ist, sondern eine ganz normale Straße, die auch mit Kraftfahrzeugen regulär befahren werden darf und die zudem eine höhere Steigung hat als die Fahrbahn.

Teil 2 – Opportunitätsprinzip

Im zweiten Teil der Antwort wird das Opportunitätsprinzip beschrieben. Man könne beispielsweise Verfahren einstellen, wenn sich herausstelle, dass der Ermittlungsaufwand (z. B. zur Fahrerermittlung oder zur Beweisführung) in keinem Verhältnis zum Verstoß stehe (Bußgeld- oder Verwarnungstatbestand).

Schwierig sei es, dass man den Abstand der überholenden Fahrzeuge zu mir nur schätzen könne.

Teil 3 – Statistik

Im dritten Teil der Antwort gibt es ein paar Zahlen. Man habe meine Anzeigen mit erheblichem Aufwand ausgewertet und mit Stand 15.07.2020 ergibt sich folgendes Bild:

  • Insgesamt 120 Anzeigen von mir.
  • 32 sind noch in Bearbeitung (noch nicht bewertet).
  • 91 sind bewertet; in 60 Fällen Verwarnungen erteilt und in einem Fall parallel zu mir an die Staatsanwaltschaft weitergegeben.
  • 30 Anzeigen wurden wegen Geringfügigkeit oder zweifelhafter Beweislage nicht verfolgt.

Dabei kann Verwarnung in diesem Kontext bedeuten, dass entweder dass ein Verwarngeld (30€) ausgesprochen wurde oder auch, dass lediglich ein kostenfreier Brief mit Hinweis auf Abstand zur „Sensibilisierung“ verschickt wurde. Dazu gibt es weiter unten im Text Details.

Teil 4 – Kategorien

In Teil 4 der Antwort wird beschrieben, in welche fünf Kategorien die Bußgeldstelle die Vorfälle einordnet und auch, welche Konsequenzen die Einordnung hat und zusätzlich auch noch, wann die Einordnung trotzdem keine Konsequenzen hat – in Abhängigkeit meines „Verhaltens“.

Kategorie 1

Seitenabstand so deutlich unterschritten, dass eine objektive Beeinträchtigung vorliegt.

Kategorie 1 für die Einordung von Überholabständen laut Bußgeldstelle Pforzheim

Fotos von Vorfällen der von der Bußgeldstelle zur Kategorie 1 genannten Beispiele: